Parallel zu meiner Arbeit als bildende Künstlerin schreibe ich hin und wieder kleine Texte. Sie haben nicht den Anspruch, Literatur zu sein. Es sind Bilder mit Worten, Textbilder.
WEIRD WOODPECKER - EIN KOMISCHER KAUZ LERNT FLIEGEN
Nach neun Jahren Kunststudium habe ich mich im Herbst 2003 selbstständig gemacht. Endlich. Im Prinzip war das von Anfang an mein Wunsch -, ich wusste nur nicht wie. Von älteren BURG-Absolventen hatte ich gehört, dass es die Möglichkeit gibt, einen Existenzgründerkurs zu machen, also eine Schulung, die betriebswirtschaftliche Grundlagen vermittelt, dazu eine Startfinanzierung – im Prinzip genau das, was ich brauchte. Um an einen solchen Lehrgang zu kommen, musste man man sich arbeitslos melden.
Also ging ich zum Arbeitsamt, das damals noch Arbeitsamt hieß, und trug mein Anliegen vor. Die zuständige Sachbearbeiterin hörte sich das an und meinte: „Na so einfach ist das nicht. Erst mal müssen Sie sich ernsthaft bemühen, einen Job zu finden. Was haben Sie denn gelernt?“ - Ich, nicht ohne Stolz: „Kunst. Ich bin Künstlerin. Bildende Künstlerin.“ Sie tippte etwas in ihren Computer ein und runzelte die Stirn: „Den Beruf gibt es nicht.“ - „Aber das hab ich studiert!“ Wie viele Jahre verriet ich lieber nicht: „Genauer gesagt Grafik, Druckgrafik.“
Nach ein paar Klicks am Computer folgte eine freudige Reaktion: „Warum sagen Sie das nicht gleich! Für Grafiker haben wir mehrere Stellenangebote. Zum Beispiel im Werbebüro…“ - „Nein, nein. Nicht Grafikdesign.“, unterbrach ich sie schnell: „Ich mache Druckgrafik. Holzschnitt.“ An ihrem Blick sah ich, dass sie mich nicht verstand: „Das ist ein traditionelles Druckverfahren, vergleichbar mit Linolschnitt, was Sie vielleicht in der Schule mal gemacht haben. Alles was man wegschneidet, erscheint im Druck weiß. Was stehenbleibt schwarz. Oder farbig. Nur eben seitenverkehrt.“ Bei meinem Lieblingsthema gerate ich in Fahrt. Doch die Ratlosigkeit im Blick der Sachbearbeiterin wurde eher größer als kleiner. Ich versuchte es anders: „Im weitesten Sinne mache ich Malerei. Nur eben grafischer.“
Wieder tippt sie etwas ein: „Ja, da hätten wir auch etwas. Eine Firma für Maler- und Renovierungsarbeiten…“ Ich schüttelte wieder den Kopf: „Stopp! Sorry! Nein! Ich bin Künstlerin, keine Handwerkerin. Oder ja, im Grunde bin ich auch das. Aber anders.“ Ich zweifelte inzwischen selbst daran, irgendetwas Sinnvolles gelernt zu haben.
Die Frau am Computer starrt auf den Bildschirm. Nach einer Weile fragte sie: „Wie viele Stunden pro Woche arbeiten Sie?“ Ich, strahlend : „Jede freie Minute!“ Sie wurde plötzlich ärgerlich: „Das müssten Sie dann aber stark reduzieren. Wenn Sie sich arbeitslos melden, dürfen Sie nur eine begrenzte Anzahl von Stunden arbeiten.“ - „Aber ohne meine Arbeit drehe ich durch!“, entfuhr es mir mit einem leichten Anflug von Panik. Sie sah mich an, als würde sie einen besonders krassen Fall von Sozialbetrug wittern. Dann druckte sie mir einen Packen Adressen aus, wo ich mich bis zum nächsten Termin bewerben sollte.
Natürlich bewarb ich mich nicht. Als ich das nächste Mal zum Arbeitsamt kam, geriet ich an eine andere Angestellte. Sie meinte gleich: „Ach selbständig wollen Sie sich machen! Na dann müssen Sie eine Etage höher!“ Dort ging alles sehr schnell, und ich bekam, was ich suchte.
Aber mit kafkaesken Hürden dieser Art ging es weiter. Um mich selbstständig zu machen, benötigte ich ein eigenes Konto in Halle. Bisher hatte ich nur ein Jugendkonto in meiner alten Heimat. Also ging ich zur Sparkasse. Eine reine Formalität, dachte ich. Die Sparkassenangestellte fragte mich, ob ich regelmäßige Einkünften hätte. „Nein, noch nicht.“, antwortete ich der Wahrheit entsprechend: „Ich bin gerade mit dem Studium fertig geworden. Jetzt möchte ich mich als freischaffende Künstlerin selbstständig machen.“ Die Frau musterte mich: „Wie stellen Sie sich das vor? Um ein eigenes Konto zu eröffnen, müssen Sie regelmäßige Einkünfte nachweisen können. Ohne Nachweis kein Konto.“
Wie ein begossener Pudel zog ich unverrichteter Dinge ab. Zu der Zeit hatte mein Existenzgründerkurs bereits begonnen. Dort sprach ich mein Problem an. Allgemeines Kopfschütteln. Einen solchen Fall gab es bisher noch nicht. Die Sparkasse ist das Kreditinstitut, das selbst Obdachlosen ein Konto einrichten muss, um ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Man schrieb mir eine Notiz. Mit dieser ging ich ein weiteres Mal zur Sparkasse. Diesmal saß ein junger Mann am Schalter: „Aber natürlich können Sie bei uns ein Konto eröffnen. Bei uns sind viele Künstlerinnen und Künstler.“ Im Handumdrehen hatte ich ein Konto. Die Notiz brauchte ich nicht.
Doch immer noch nicht immer genug davon: Zu Beginn des Existenzgründer-Lehrgangs musste ich ein Gründungskonzept verfassen und von der IHK genehmigen lassen. Ich war die erste und bis dahin einzige Teilnehmerin, deren Konzept abgelehnt wurde. Mit der Begründung, mit so wenig Geld könne man unmöglich ein Unternehmen führen. Meine Vorstellungen seien vollkommen weltfremd. (Jahre später möchte ich der IHK sagen: Man kann. Man kann sogar mit noch viel weniger auskommen.)
Ich schrieb mein Konzept mit Hilfe der Dozenten des Existenzgründerkurses noch einmal um. Die veranschlagten Summen machten mir Angst. Ich hatte noch nie mit so viel Geld zu tun gehabt. Aber das Konzept wurde danach genehmigt.
Es scheint, als würde ich solche Schwierigkeiten anziehen. Inzwischen weiß ich, dass ich Asperger-Autistin bin. Ich wirke auf die meisten Menschen naiv und ungeschickt. Irgendwie komisch. Und gewissermaßen bin ich das auch: Ich kann nicht gut reden und reagiere in mir unbekannten, schwer überschaubaren Situationen alles andere als souverän.
Über meine Anmeldung bei der KSK, der Künstlersozialkasse, und über meine ersten Aufträge könnte ich ähnliche Anekdoten berichten, aber das würde hier den Rahmen sprengen.
Nun bin ich seit über zwanzig Jahre freischaffende Künstlerin, z.T. recht erfolgreich. Ich will nichts schön reden. Es war manchmal hart, vor allem in den ersten Jahren. Aber es ging stetig aufwärts. Nach und nach gewann ich einigen Preise und machte mir einen Namen. Doch der Corona-Lockdown hat mich ziemlich zurückgeworfen. Plötzlich sind da wieder Sorgen, die ich längst überwunden glaubte. Ich merke, ich bin keine Zwanzig mehr, und die Kunstwelt hat sich verändert. Als Künstlerin mit einem kleinen Handicap hat man es schwerer denn je. - Wie es weitergeht? Wir werden sehen. Wenn ich eins gelernt habe, dann ist es Beharrlichkeit und ein verdammt langer Atem.
Übrigens, gut ein Jahr nach meinem Besuch beim Arbeitsamt bekam ich tatsächlich ein Angebot als Kunstmalerin in Aschersleben. Ich rief dort an und äußerte vorsichtig mein Interesse. „Aber Studierte wollen wir hier eigentlich nicht.“, sagte der resolute Herr am anderen Ende der Leitung: „Was können Sie denn?“ - „In erster Linie Holzschnitt. Aber auch ein bisschen Malerei mit Acryl und Wasserfarben.“ - „Acryl ist super.“, kommentierte der Herr: „Welches Genre?“ Ich überlegte: „Menschen, Tiere, Stillleben, Interieurs…“ - „Wie viele Bilder schaffen Sie pro Tag?“, hakte er nach. „Pro Tag?! Ich brauche Wochen, ja Monate für ein Bild!“ - „Also so geht das nicht! Bei wird im Akkord produziert. Die besten Leute schaffen acht-neun Bilder pro Tag.“ Oh Gott, das würde ich nie und nimmer schaffen! Und auch nicht wollen. Wir verblieben so, dass ich ganz unverbindlich mal vorbeikomme und mir den „Kunstbetrieb“ anschaue.
Ich hab es nicht gemacht. Inzwischen bereue ich es ein bisschen. Denn dann würde ich jetzt wissen, wo all die Billiggemälde aus dem Katalog oder Baumarkt herkommen: „Echt handgemalt“.
© Franca Bartholomäi, gelesen am 20. November 2025 zur "FuckUp Night" im Puschkinhaus Halle
Lichtnelken, 2025, Holzschnitt, 34 x 72 cm
GEDANKEN ZUR AUFERSTEHUNG: EIN SPLITTERTEXT.
Erster Gedanke. Beginnen wir mit der Gegenwart, dem schnöden Markt: Inzwischen gibt es Internetfirmen, die auf Twitter anbieten, verstorbene User basierend auf der Analyse ihrer Tweets zu Lebzeiten in „lebendige“ Bots zu verwandeln, die weiterhin mit ihren Freunden und Verwanden kommunizieren. Andere locken sogar mit dem Angebot, als digitaler Avatar online ewig weiterleben zu können. Meine Empfindungen schwanken angesichts dessen zwischen Verständnis für die Trauernden, denen ein Fake lieber ist als der totale Verlust, und tiefer Abscheu vor dieser Anmaßung. Eine vermeintliche „Auferstehung“ wird hier zur Ware. Die Trennlinie zwischen ewigen Leben und Verdammnis verläuft nicht zwischen gottgefällig und sündhaft, sondern zwischen wohlhabend und arm. Oder eben zwischen digital-affin und analog. (1)
Zweiter Gedanke -, die Wissenschaft: Forschende wollen mit Hilfe gentechnischer Verfahren den seit den 1930er Jahren ausgestorbenen, genauer gesagt ausgerotteten Beutelwolf zurückkehren lassen. Das letzte Exemplar steht ausgestopft in einem Museum in Tasmanien. Genetisches Material ist also vorhanden. Von einer „Wiederauferstehung“ war die Rede. Mit verstorbenen Menschen wäre das theoretisch auch möglich. Theoretisch. Aber ist das „Auferstehung“? (2)
Das, was Christen überall auf der Welt zu Ostern feiern, verweist in zu tiefst mystischem Gestus auf die Überwindung des Todes, auf das ewige Leben. Ein Quell der Hoffnung und Zuversicht, das Herzstück des Glaubens. Dieses Thema wirft unweigerlich die Frage nach dem wahren Sein des Menschen auf, nach der Seele. Was genau ist es, das wieder aufersteht? Das Datenpaket aller Posts und Kommentare im Netz kann es doch ebenso wenig sein, wie das Produkt aller Gene, oder?
Dritter Ansatz. Mein persönliches Empfinden: Als Kind, etwa Vorschulalter oder erste Klasse, sah ich an einem kalten, trüben Ostersonntag eine historische Verfilmung des neuen Testaments. Allein. Ich habe inzwischen versucht herauszufinden, welche das gewesen sein könnte, aber ich bin nicht weit gekommen. Im Alter von fünf-sechs Jahren achtet man nicht auf den Namen des Regisseurs oder das Erscheinungsjahr. Schwarzweiß war damals alles. In Erinnerung geblieben sind mir nur einige Szenen am Schluss - noch betäubt von den Schreckensbildern der Kreuzigung: Die leere Grabeshöhle, das Licht, dann Jesus Christus, wie er schemenhaft überstrahlt seinen Jüngern am Himmel erscheint und verkündet, dass er auferstanden sei. Diese Bilder haben sich eingebrannt und mit ihnen auch ein Abglanz der Botschaft. Damals hab ich das geglaubt, ohne Frage. Mir war klar, dass das kein Märchenfilm ist.
Aufgewachsen im nüchternen Klima des real existierenden Sozialismusses, übte alles Religiöse einen starken Reiz auf mich aus, den Reiz des Verpönten oder zumindest des völlig anderen. Offenbar hatte ich Westfernsehen geguckt - mehr oder weniger heimlich. Verboten war es nicht, aber man musste aufpassen, wem man davon erzählt. Ich hatte nach dem Film das Gefühl, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein, top secret. Dieser Zwiespalt setzt sich, wenn man so will, bis heute in meinen Arbeiten fort: Auf der einen Seite die Vorliebe für mystisch aufgeladene Arrangements, auf der anderen der Hang zum Komischen, Grotesken, das alle Innerlichkeit wieder zunichte macht.
Der australische Musiker Nick Cave sagt von sich, sein Glaube an Gott sei im Wesentlichen ein Zweifeln, ein innerer Kampf. Gott fungiert hier als unverrückbare Größe, die in seinen Songs immer wieder auftaucht und ohne die sich bestimmte Dinge nicht ausdrücken ließen. (3)
So ist es auch bei mir und meiner künstlerischen Arbeit. Ich greife oft auf religiöse Motive zurück, z.B. Apokalypse, Versuchung, Heiligengeschichten u.s.w.. Zum einem sind das in unserem Kulturraum bekannte, vertraute Bilder. Zum anderen, und das ist, was mich in erster Linie antreibt, sind diese mit starken Emotionen verbunden, Emotionen, die mir selbst nicht fremd sind. Die wahrscheinlich niemanden fremd sind, da sie die tiefsten menschlichen Ängste und Hoffnungen berühren, und diese sind universell.
Mich faszinieren die Gemälde und Grafiken des ausgehenden Mittelalters, der vereinfachte, expressive Umgang mit der Figur. Seit langem liegt ein kleines Insel-Büchlein mit dem Titel „Christliche Auslegung des Lebens Jesu Christi - Eine Holzschnittfolge des 15. Jahrhunderts“ auf meinem Arbeitstisch. „Die Auffahrt des Herrn“ zeigt Maria und die Jünger kniend, nach oben blickend. Von Jesus Christus schauen bloß noch die Zehenspitzen aus einer Wolke am Himmel. Zwei Fußstapfen auf einem Stein zeigen an, wo er vorher gestanden hat. So einfach lässt sich das darstellen, so einfach vorstellen. (4)
Dabei ist - so jedenfalls meine Empfindung - die Auferstehung einer der problematischsten Topoi der christlichen Lehre. An Gott glauben, das mag leicht sein. Aber an die Auferstehung? Vielleicht in Bezug auf Jesus Christus, er ist schließlich Gottes Sohn. Doch bezogen auf alle Gläubigen, auf alle Menschen? Das dürfte für Viele das Vorstellungsvermögen übersteigen, so tröstlich der Gedanke auch sein mag.
Etwas in mir ist immer Kind geblieben, und dieses Kind fragt: Wie soll das funktionieren? Treffe ich am Jüngsten Tag auch meine geliebten Haustiere wieder? Ohne Tiere würde mich das ewige Leben nicht im Geringsten locken. Und überhaupt, als was ersteht man wieder auf? Als Kind? Als Erwachsener? Und wie ist das, wenn man sich mit seinem biologischen Geschlecht bzw. Aussehen nicht identisch fühlt? Ist man dann endlich das, als was man sich immer gefühlt hat? Oder steckt man bis in alle Ewigkeit in dem Zustand fest, mit dem man sein ganzes Leben lang gehadert hat?
Das alles mag abwegig klingen, und ich hoffe, dass ich mit meinen Gedanken niemanden zu nahe trete. Das sind Kinderfragen, die dem Mysterium der Auferstehung nicht gerecht werden. Aber unser Verhältnis zu Tieren und das Hadern mit dem körperlichen Erscheinungsbild, dies sind die vielleicht wichtigsten Eckpunkte meines eigenen Schaffens. Sollte ich mich jemals zum Thema Auferstehung äußern, explizit oder verklausuliert, dann wird sich das unweigerlich um diese Fragen ranken.
Franca Bartholomäi © 2022, geschrieben für den Hör- und Sehraum der Katholischen Akademie des Bistums Magdeburg
Quellen
1 Jonas Frick, Politik der Geschwindigkeit - Gegen die Herrschaft des Schnelleren, S. 166-167, Mandelbaum Verlag 2021
2 DLF Forschung aktuell, 30. März 2022
3 Zitat, Nick Cave https://beruhmte-zitate.de/zitate/1841950-nick-cave-although-ive-never-been-an-atheist-there-are-per/
4 Christliche Auslegung des Lebens Jesu Christi - Eine Holzschnittfolge des 15. Jahrhunderts, Insel-Verlag Nr. 350, Leipzig 1955
Neugestaltung des Katharinenaltars im Magdeburger Dom, 2009, Lindenholz farbig gefasst und vergoldet
KÄFIG
Dieses Gefühl, in einem engen Raum gesperrt zu sein, sich von hier nach da zu bewegen in Sichtweite. Kurze Distanzen. Es sind immer die gleichen Wege, immer die gleichen Gedanken. Mir fehlen die Worte, diese kleine Welt zu verlassen. Alles, was ich habe, sind Bilder.
aus der BILDER-Serie (Kindergarten), 2024, Holzschnitt, 33 x 65 cm
ERINNERUNG
Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es keine Erinnerung. Es ist, oder es ist nicht. Und wenn es ist, dann ist es gnadenlos gegenwärtig, egal vor wie viel Jahren es sich ereignet hat, ein lebendiger Teil meiner selbst.
VOGELFRAU
Die Vogelfrau breitet ihre Flügel aus, ein silbriges Flirren. Weiße Tauben stieben unter ihren Fittichen hervor. Sie öffnet den Schnabelmund und beginnt zu singen, unbeschreiblich hoch, stratosphärisch. Gelb-rosa Spiralen breiten sich im Raum aus. Ich erschaudere bei jedem Kringel, den ich zeichne. Welche eine Wonne, welch ein Glücksgefühl. Die Filzstiftzeichnung habe ich noch heute. Es war das erste Mal, dass ich den Zauber des Bildermachens bewusst erlebt habe und als Erinnerung in dieser Form abrufen kann.
aus der BILDER-Serie (Spiegelung), 2024, Holzschnitt, 33 x 65 cm
ZOOHANDLUNG
Noch immer stehe ich vorm Schaufenster der Zoohandlung. Gelbe und blaue Wellensittiche turnen in einem Käfig hinter der Scheibe -, doppelte Trennung: Gitter und Glas. Ich will sie alle retten, ich will sie alle haben, sie zähmen, ihnen Sprechen beibringen. Wenigstens einen. Erlöserfantasien, Sehnsucht. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich bin acht, ich bin zehn, ich bin viel zu alt zum Heulen. Mutti schämt sich für mich. Eine fremde Frau spricht uns an, dass diese kleinen Vögel wirklich unkomplizierte Haustiere sind. Sie selbst hat zwei. Frostig entgegnet Mutti, dass wir auch mal einen hatten. Hat nicht funktioniert. Außerdem bekommen wir demnächst eine Katze. Das passt natürlich nicht zusammen, sagt die Frau und geht weiter.
Wellensittiche, 2024, Farblinolschnitt, Papiermaß 70 x 100 cm
BILDER
Ich kann keine Geschichten erzählen, ich kann nur Bilder machen. Selbst mein Leben zerfällt in eine Aneinanderreihung von Bildern - hoch aufgeladen, verdichtet, intensiv. Wo kein Bild ist, da ist nichts.
VIETNAM
Mein Spiegelbild zittert. Gelbliche Schatten huschen über mein Gesicht. Gitterstäbe erscheinen und verschwinden wieder. Ein Kindheitstraum ist in Erfüllung gegangen: Ich bin in Vietnam, ich bin in Hanoi - im Tempel der Literatur. Dass ich hier bin, grenzt an ein Wunder. Beinah hätte ich „Wunde“ geschrieben -, das hätte es besser getroffen. Ich bin meiner Sprache amputiert, meines Denkens, meiner Selbst. Noch immer kann ich es nicht fassen, hier zu sein. Hier, das ist nirgends. Hier gibt es nicht. Ich stehe an einem Goldfischteich und schaue ins Wasser. Kalte Münder durchstoßen die Oberfläche. Kleine Löcher öffnen sich in meiner Brust, Abgründe, die ins Bodenlose führen.
© Franca Bartholomäi, 2024